Meine Sicht auf die Lage der Gemeinde Gerstungen Teil II

Vor gut einem Jahr schrieb ich Ihnen, sehr geehrte Leserinnen und Leser, meine Sicht auf die Lage der Gemeinde Gerstungen nach 100 Tagen im Amt des Bürgermeisters. Zwischenzeitlich unternahm ich mehrere Anläufe zu Teil II. Die Gründe dafür, dass Sie erst heute die Fortsetzung meiner Lagebeurteilung lesen können, liegt an den vielschichtigen und komplexen Herausforderungen, welche wir - Bürgerschaft, Gemeinde- und Ortsteilräte sowie die Verwaltung, angehen und lösen müssen. 

Wer an den letzten Einwohnerversammlungen teilnahm, konnte bereits meine sehr konkrete, teilweise auch schonungslose und offene Bestandsaufnahme vernehmen.

In den folgenden Zeilen ist es mir wichtig, den politischen Spagat zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen „Alt- Gerstungen“ und „Alt-Marksuhl“, zwischen einstigen Visionen und den harten Realitäten der heutigen Großgemeinde sowie zwischen den unterschiedlichen Erwartungen der Einwohnerschaft und dem letztlich tatsächlich Leistbaren einigermaßen erfolgreich hinzubekommen. Schließlich sehe ich die große Gemeinde Gerstungen auf einem guten Weg zur inneren Vertrauensbildung, sei es in den politischen Gremien und in den sozialen Strukturen.

Als „Bürgermeister von außen“ wie ich mich selbst sehe, schreibe ich diese Zeilen mit neutralem Blick. Es kann sein, dass ich damit bei einigen früher und heute in kommunaler Verantwortung stehenden Menschen anecke. Wenn dies der Fall sein sollte, entschuldige ich mich bereits an dieser Stelle.

 

Ein kurzer Blick zurück

Mit der Eingemeindung von Marksuhl und Wolfsburg-Unkeroda sollte eine wirtschaftlich starke und dauerhaft selbstständige Gemeinde zwischen Eisenach und Bad Salzungen entstehen. Die grundsätzlichen Zielstellungen der Mütter und Väter der heutigen Großgemeinde wurden 2017 in einem gemeinsamen 17-seitigen Antrag auf Bildung freiwilliger Gemeindestrukturen an den Freistaat Thüringen formuliert. Ich habe mich intensiv mit der gesamten Aktenlage zur Gebietsreform beschäftigt. Dabei ist mir aufgefallen, dass die grundsätzlichen, für eine möglichst geordnete und harmonische Gemeindeentwicklung wirklich wichtigen Faktoren nicht in der notwendigen fachlichen Tiefe beschrieben, geprüft und gewertet wurden.

Mein Eindruck verstärkt sich immer weiter, dass der Geist dieses Antrages im Kern den politischen Zielen der damaligen Thüringer Landesregierung entsprach, möglichst schnell möglichst große Kommunen zu bilden - wenn nötig, auf Teufel komm raus. Aus der damaligen Sicht waren die Diskussionen der Gemeinderäte in Marksuhl und Wolfsburg-Unkeroda auch von einer gewissen „Abwehrhaltung“ gegen eine drohende Eingemeindung nach Eisenach geprägt.

Auffällig ist auch, dass die Einschätzungen und Anregungen der Stadt Eisenach keine Berücksichtigung fanden. Warum dies ein gravierender strategischer Fehler gewesen sein kann, darauf komme ich später zurück. Im Großen und Ganzen entnehme ich aus diesem Antrag einen bunten Strauß an Wünschen, Zielen und Visionen, welche in Teilen sehr akribisch beschrieben wurden. Dabei wurde jedoch der zentralste Entwicklungsengpass nahezu komplett ignoriert: das dramatische Entwicklungsgefälle der kommunalen Infrastruktureinrichtungen und denen sich daraus zwangsläufig ergebenden finanziellen und letztlich entwicklungspolitischen Konsequenzen.

 

Was sind die kommunalen Infrastrukturen und was meine ich mit Entwicklungsgefälle?

• Trinkwasseranlagen (Brunnen, Ortsnetze, Hochbehälter usw.)
• Abwasserbehandlungsanlagen (kommunale Kläranlagen, Ortskanäle, Sammler, Pumpwerke usw.)
• Straßen und Nebenanlagen (Fahrbahnen, Fahrbahnentwässerungsanlagen, Gehwege, Straßenbeleuchtung und Begrünung)
In den Ortsteilen Burkhardtroda, Eckardtshausen, Förtha, Lindigshof und Wolfsburg-Unkeroda* fehlt bis heute der Anschluss an eine zentrale Kläranlage. Wir reden vom Jahr 2025 - also 35 Jahre nach der Wiedervereinigung! Es existieren kaum dem heutigen Stand der Technik entsprechende Ortskanäle, Ortsverbindungssammler sind ebenfalls nicht vorhanden. Der Zustand der Abwasseranlagen befindet sich nahezu flächendeckend auf DDR-Niveau und bedarf in den kommenden Jahren massiver Investitionen.

(WICHTIG: „Alt-Gerstungen“ nahm entgegen eine völlig andere Entwicklung. Seit 1990 wurden hier die Trink- und Abwasseranlage konzeptionell und systematisch entwickelt. Mit dem Abschluss der Baumaßnahmen in Oberellen wäre die gesamte öffentliche Einrichtung „Trink- und Abwasser“ 2025/26 weitgehend fertig gestellt. Dabei erfolgte in der Regel parallel dazu der Ausbau von Straßen, Gehwegen und Plätzen.)

Bis auf die Ortsdurchfahrtsstraßen in Trägerschaft des Bundes, des Landes oder des Kreises und bei neu erschlossenen Wohn und Gewerbegebieten stellt sich ein nahezu deckungsgleich düsteres Bild bei der kommunalen Straßeninfrastruktur in den ehemaligen Gemeinden Marksuhl und Wolfsburg-Unkeroda dar. Diese hinkt mit großem Abstand dem Entwicklungsniveau vergleichbarer Kommunen hinterher.

Diese Faktenlage war damals (sichtbar) bekannt und wurde - zumindest im betreffenden Antragsschreiben - VOLLSTÄNDIG ausgeblendet. Dies war ein gravierender Fehler dieser Gebietsveränderung, denn dadurch wurden zwangsläufig die Weichen in Richtung Dysfunktionalität der heutigen Großgemeinde Gerstungen auf Jahrzehnte hinaus gestellt.

Was meine ich mit „Dysfunktionalität“ und was sind die zwangsläufigen Konsequenzen für Sie?

„Dysfunktional“ bedeutet, dass etwas nicht so funktioniert, wie es sollte. Übertragen auf die Gemeinde Gerstungen bedeutet dies, dass die Gesamtgemeinde heute und in den kommenden Jahrzehnten den allergrößten Teil ihrer finanziellen und administrativen Kraft in die Aufarbeitung der überwiegend vernachlässigten kommunalen Infrastrukturen der ehemaligen Gemeinden Marksuhl und Wolfsburg-Unkeroda stecken MUSS.

Frage: Warum MUSS die Gemeinde Gerstungen diese Defizite aufarbeiten?
Antwort: Weil sie dazu gesetzlich verpflichtet ist! Auf jeden Fall ist die Gemeinde Gerstungen gezwungen, die erheblichen Entwicklungsrückstände im Bereich Abwasser aufzuholen. Dafür wurde noch vom „alten“ Gemeinderat ein „Abwasserbeseitigungskonzept“ aufgestellt und beschlossen. Dies sieht im Kern vor, dass die Gemeinde bis zum Jahr 2038/40 ihre gesetzlichen Verpflichtungen hinsichtlich der Anschlüsse u.a. der oben aufgeführten Ortsteile an eine zentrale Kläranlage erfüllt.

Frage: Wer ist die Gemeinde Gerstungen?
Antwort: Alle Einwohner und Unternehmen, welche im Gemeindegebiet leben und arbeiten.

Frage: Wie hoch sind die Kosten für die nun notwendigen Baumaßnahmen?
Antwort: Nach heutigen Annahmen zwischen 60 und 90 Millionen Euro. Konkret müssen diese Entwicklungsrückstände, abgesehen von viel zu geringen Fördermitteln, durch die Gebühren- und (Abwasser)Beitragszahler finanziert werden. Und genau hier liegt, meiner Einschätzung nach, der tatsächliche Grund für die zunehmende Dysfunktionalität der Gesamtgemeinde. Wir sind aufgrund gesetzlicher Auflagen dazu „verurteilt“, den allergrößten Teil unserer freien Finanzmittel in die Abarbeitung dieser Entwicklungsrückstände zu stecken. Dies wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass
• die Entgelte für Trinkwasser,
• besonders die Entgelte für Abwasser,
• die Hebesätze für Grund- und Gewerbesteuern,
• Mieten und Pachten sowie
• die sonstigen gemeindlichen Entgelte wie Nutzungsgebühren

in den kommenden Jahren immer weiter steigen müssen. Parallel wird die Gemeinde Gerstungen gezwungen sein, ihre freiwilligen Leistungen zu reduzieren. Dabei habe ich noch nicht die notwendigen Investitionen in die marode kommunale Straßeninfrastruktur mit eingerechnet. Hier können wir von weiteren mindestens 30 - 50 Millionen Euro ausgehen. In dieser Gesamtbetrachtung sind die Auswirkungen der sinkenden Bevölkerungszahl, der abnehmenden Steuerkraft, der steigenden Zinsen und der galoppierenden Baukosten zwingend mit einzupreisen. Betrachte ich diese Faktenlage insgesamt, wird die Gemeinde Gerstungen dauerhaft kaum in der Lage sein, allein nur die notwendigen Investitionen im Abwasserbereich zu stemmen. Jedenfalls nicht zu politisch akzeptablen Gebühren. Es bleiben kaum andere Optionen, als den Investitionszeitraum zu strecken. Ob dies möglich ist, sehe ich kritisch, da wir zur Umsetzung von gesetzlich definierten Abwasserbehandlungsstandards verpflichtet sind und dabei anderen Kommunen unserer Region Stand heute um Jahrzehnte hinterherhinken. Auch Fördermittel des Freistaates sind kaum noch verfügbar, welche Gebührensenkend wirken könnten.

Gedankenspiel: Ich gehe jetzt gedanklich trotzdem einmal davon aus, dass wir statt 2039 die Investitionen in unsere Abwasseranlagen in 2059 abgeschlossen haben - also den Umsetzungszeitraum um weitere 20 Jahre ausdehnen.

Frage: Was wird dies beispielsweise für die Einwohner von Burkhardtroda oder Eckardtshausen bedeuten?
Antwort: Beide Ortsteile befinden sich am Rand des Gemeinde- und damit des Entsorgungsgebietes. Daher werden diese Ortsteile erst zuletzt an eine zentrale Kläranlage angeschlossen. Jedoch müssen alle Anschlussnehmer in diesen Ortsteilen die immer höher steigenden Gebühren vor allem für Abwasser finanzieren, obwohl ihre Dörfer auf Jahrzehnte hinaus keinen Anschluss und damit auch keine nennenswerte bauliche Entwicklung zu erwarten haben. Wie wird sich dies auf die innere Verfassung, also die Akzeptanz der notwendigen kommunalpolitischen Entscheidungen innerhalb der Gesamtgemeinde Gerstungen, auswirken?
(Frage mit Blick auf den Eingang dieses Artikels: Wäre die Stadt Eisenach womöglich leistungsfähiger gewesen, diese Entwicklungsdefizite schneller aufzuholen?)

Eine diffizile Frage noch: Welche Auswirkungen haben diese Fakten auf die Einwohner und Unternehmen von „Alt-Gerstungen“? Welche Folgen haben diese Tatsachen für den inneren Zusammenhalt unserer großen, noch jungen Gemeinde?

Bitte verstehen Sie mich hier richtig! Aber diese Frage muss man stellen, wenn über die Folgewirkungen dieser Gebietsreform gesprochen wird. Eine offene und ehrliche Beantwortung bedeutet, sich den politischen und wirtschaftlichen Realitäten zu stellen. Damit einhergehend muss auch analysiert werden, was sich die Gemeinde Gerstungen in Zukunft noch leisten kann. Und vor allem muss die Sicherstellung der Finanzierung der weiteren gemeindlichen Pflichtaufgaben geplant werden, insbesondere bei Feuerwehren, sozialen Einrichtungen und Kindergärten.

Sie können davon ausgehen, dass ich alle mir heute bekannten und sinnvollen Maßnahmen ergreife, um gemeinsam mit dem Gemeinderat und dem Freistaat Thüringen diesen „Gordischen Knoten“ aufzulösen oder zu zerschlagen.

Mit Blick auf den Freistaat Thüringen vertrete ich einen in Stein gemeißelten Standpunkt. Der Freistaat hat diese Gebietsreform gewollt, im Vorfeld unterstützt, rechtlich geprüft und letztlich ein Gesetz dazu im Landtag verabschiedet. Daher bin ich zusammen mit unseren beiden Beigeordneten in verschiedene Gesprächsformate mit dem Freistaat Thüringen eingetreten, um gemeinsam mit der Landesregierung mindestens Teillösungen zur mittel- und langfristigen Sicherstellung der finanziellen Leistungsfähigkeit Gerstungens zu erreichen. Unterstützt werden wir hier von Landrat Dr. Michael Brodführer und Ulrike Jary als Wahlkreisabgeordnete im Thüringer Landtag.

Über die Entwicklungen dieser Gespräche informiere ich regelmäßigen Gemeinderat.

Vielleicht ist es mir gelungen, Ihnen, sehr geehrte Leserinnen und Leser, einen grundsätzlichen Einblick in die heutige Lage der Gemeinde Gerstungen zu geben. Unsere Gemeinde verfügt über viele Stärken und Chancen. Gerade deshalb müssen wir uns heute dafür stark machen, dass unsere Gemeinde auch tatsächlich die von den Müttern und Vätern dieser Gebietsreform angestrebten Ziele erreichen kann.

Daniel Steffan
Bürgermeister